Krypto und Philosophie wird selten in einem Atemzug genannt. Wir können aber nun den anstehenden 100.sten Geburtstag von Gilles Deleuze zum Anlass nehmen, einige Gedanken zu dem Zusammenhang von Philosophie und Krypto zu vertiefen. Die große Unsicherheit der politischen und philosophischen Umgebung von Krypto macht dies umso dringlicher, als dass gerade Rechte und Ultraliberale geneigt sind, die Krypto-Narrative für sich einzunehmen. Dabei wird schlicht und ergreifend verschleiert, dass die Essenz von Krypto in der Dezentralität liegt und nicht in der Macht Weniger.
Gilles Deleuze, geboren am 18. Januar 1925 in Paris, gilt als einer der bedeutendsten französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine Ideen und Konzepte finden nicht nur in der Philosophie Anklang, sondern bieten auch heute noch wertvolle Perspektiven auf aktuelle gesellschaftliche, technologische und wirtschaftliche Entwicklungen. Besonders spannend ist, wie sich Deleuzes Denken auf die Blockchain-Technologie anwenden lässt – ein dezentralisiertes System, das in vielerlei Hinsicht mit Deleuzes Visionen übereinstimmt.
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Das Rhizom: Ein Modell für Blockchain-Netzwerke
Eines von Deleuzes bekanntesten Konzepten ist das Rhizom, das er zusammen mit Félix Guattari in Tausend Plateaus entwickelte. Das Rhizom beschreibt ein dezentrales Netzwerk, das keine Hierarchie kennt, keine fixen Zentren hat und durch seine Fähigkeit zur Vernetzung und Verzweigung gekennzeichnet ist. Es steht im Gegensatz zu baumartigen Strukturen, die auf festen Wurzeln und zentralen Autoritäten beruhen.
Die Blockchain-Technologie verkörpert diese rhizomatische Struktur in der Praxis. Ein Blockchain-Netzwerk besteht aus einer Vielzahl von Knotenpunkten, die gleichberechtigt sind und gemeinsam eine dezentrale Datenbank aufrechterhalten. Kein einzelner Knoten hat die Macht, das System zu kontrollieren, und die Informationen werden nicht an einem zentralen Ort gespeichert, sondern verteilt. Dieses System ermöglicht eine robuste, flexible und widerstandsfähige Struktur – genau das, was Deleuze als eine der zentralen Eigenschaften des Rhizoms beschreibt.
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Deterritorialisierung und Dezentralisierung
Deleuze und Guattari führten den Begriff der Deterritorialisierung ein, um Prozesse zu beschreiben, in denen feste Strukturen aufgebrochen und neue, flexiblere Verbindungen geschaffen werden. Im Kontext der Blockchain-Technologie zeigt sich diese Idee auf beeindruckende Weise.
Traditionelle Finanzsysteme und Institutionen wie Banken oder Zentralbehörden fungieren als zentrale Autoritäten, die Transaktionen, Geldflüsse und Eigentumsrechte kontrollieren. Die Blockchain untergräbt dieses Modell, indem sie eine dezentralisierte Alternative bietet. Transaktionen werden nicht mehr durch eine zentrale Instanz validiert, sondern durch ein Netzwerk von Teilnehmern, die durch Konsensmechanismen wie Proof of Work oder Proof of Stake agieren.
Diese „Entterritorialisierung“ traditioneller Machtstrukturen hat tiefgreifende Auswirkungen:
• Finanzielle Freiheit: Individuen können unabhängig von Banken oder Staaten Transaktionen durchführen und Vermögenswerte besitzen.
• Globale Teilhabe: Die Blockchain ermöglicht es Menschen in Regionen ohne Zugang zu traditionellen Finanzsystemen, am globalen Wirtschaftsleben teilzunehmen.
• Kollaboration statt Kontrolle: Anstatt Macht zu monopolisieren, fördert die Blockchain Zusammenarbeit und Gemeinschaft.
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Wunschproduktion und die Blockchain
In Anti-Ödipus analysieren Deleuze und Guattari die Rolle des Begehrens in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie argumentieren, dass der Kapitalismus das Begehren nicht nur organisiert, sondern auch ausnutzt, um seine Expansion voranzutreiben. Gleichzeitig sehen sie das Potenzial des Begehrens, bestehende Systeme zu untergraben und alternative Wege zu schaffen.
Die Blockchain-Technologie kann als Ausdruck eines solchen alternativen Begehrens verstanden werden. Sie entstand als Antwort auf die Unzufriedenheit mit zentralisierten Systemen und dem Wunsch nach mehr Autonomie, Transparenz und Gerechtigkeit. Bitcoin, die erste und bekannteste Blockchain-Anwendung, wurde inmitten der Finanzkrise 2008 geboren – einer Zeit, in der das Vertrauen in traditionelle Institutionen auf einem Tiefpunkt war.
Heute ermöglicht die Blockchain-Technologie die Schaffung neuer Formen des wirtschaftlichen und sozialen Austauschs:
• Dezentrale Finanzsysteme (DeFi): Plattformen wie Uniswap oder Aave zeigen, wie Finanzdienstleistungen ohne zentrale Vermittler bereitgestellt werden können.
• Non-Fungible Tokens (NFTs): Diese digitalen Vermögenswerte eröffnen Künstlern und Kreativen neue Wege, ihre Werke zu monetarisieren und direkt mit ihrem Publikum zu interagieren.
• Dezentrale Organisationen: Mit Decentralized Autonomous Organizations (DAOs) können Gemeinschaften Entscheidungen kollektiv und transparent treffen.
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Nomadologie und die Blockchain-Gesellschaft
Deleuzes Konzept der Nomadologie beschreibt eine Lebensweise, die sich durch ständige Bewegung, Anpassung und Veränderung auszeichnet. Nomaden widerstehen festen Strukturen und bevorzugen flexible, offene Systeme. Dieses Denken spiegelt sich auch in der Blockchain-Welt wider.
Blockchain-Nutzer sind nicht an physische Orte oder traditionelle Institutionen gebunden. Ihre digitale Identität und ihre Vermögenswerte existieren unabhängig von nationalen Grenzen oder staatlicher Kontrolle. Dies ermöglicht eine neue Form der digitalen Nomadenschaft, die durch Flexibilität und Autonomie geprägt ist:
• Grenzenlosigkeit: Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum können weltweit ohne Einschränkungen verwendet werden.
• Selbstsouveränität: Nutzer behalten die vollständige Kontrolle über ihre Daten, Identität und Vermögenswerte.
• Experimentelle Lebensformen: Blockchain-Communities wie Ethereum fördern innovative soziale und wirtschaftliche Modelle, die auf Teilhabe und Zusammenarbeit basieren.
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Widerstand und Schaffung neuer Welten
Für Deleuze ist Widerstand nicht nur eine Ablehnung bestehender Machtstrukturen, sondern auch die aktive Schaffung neuer Möglichkeiten. Die Blockchain-Technologie verkörpert genau diese doppelte Dynamik:
• Widerstand: Die Blockchain stellt eine Herausforderung für traditionelle Institutionen wie Banken, Regierungen und große Technologieunternehmen dar. Sie bietet Alternativen zu zentralisierten Systemen, die oft als intransparent und ungerecht wahrgenommen werden.
• Schöpfung: Gleichzeitig eröffnet die Blockchain neue Räume für Innovation und Kreativität. Von dezentralen Finanzplattformen bis hin zu nachhaltigen Lieferketten – die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig und transformativ.
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Herausforderungen und Kritik
Deleuze war kein naiver Optimist. Seine Philosophie erkennt die Ambivalenzen jeder neuen Entwicklung an. Auch die Blockchain-Technologie ist nicht frei von Problemen:
• Konzentration von Macht: Obwohl Blockchain-Systeme dezentral angelegt sind, konzentriert sich Macht oft in den Händen weniger Akteure, z. B. großer Miner oder Entwickler.
• Umweltauswirkungen: Proof-of-Work-Mechanismen wie bei Bitcoin haben einen hohen Energieverbrauch, was Fragen zur ökologischen Nachhaltigkeit aufwirft.
• Missbrauchspotenzial: Die Anonymität der Blockchain kann für illegale Aktivitäten genutzt werden, wie Geldwäsche oder Steuerhinterziehung.
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Deleuze und die Zukunft der Blockchain
Die Philosophie von Gilles Deleuze zeigt, dass die Blockchain-Technologie nicht nur eine technische Innovation ist, sondern auch eine tiefgreifende philosophische Dimension hat. Sie stellt Fragen nach Macht, Freiheit, Gemeinschaft und Wandel, die in Deleuzes Werk zentral sind. Ihre rhizomatische Struktur, ihr Potenzial zur Deterritorialisierung und ihre Fähigkeit, neue soziale und wirtschaftliche Realitäten zu schaffen, machen sie zu einem faszinierenden Beispiel für die Relevanz von Deleuzes Denken im 21. Jahrhundert.
Während die Blockchain sich weiterentwickelt, bleibt sie ein Experimentierfeld für die Schaffung neuer Welten – ein Prozess, den Deleuze als das „Werden“ beschreiben würde. In diesem Sinne ist die Blockchain nicht nur Technologie, sondern auch Philosophie in Aktion.